Juni: Johanna Bruckner
„Atmospheric Drafts of Intimacy“
HD Video, 29:12 min, 2020 mit Stimmen von Anthony Ceballos, Venus de Mars, Jay Owen Eisenberg, Julie Gard, Alexis Pauline Gumbs, Andrea Jenkins, Katie Robinson, Dua Saleh, Morgan Grayce Willow und Johanna Bruckner.
In ihrer Arbeit „Atmospheric Drafts of Intimacy“ erweckt die Medienkünstlerin Johanna Bruckner Materie, Zeit und Weltraum zum Leben. Mit ihren „spekulativen Körperlichkeiten“ und einem polymorphen Stimmengewirr präsentiert sie ein posthumanistisches, queeres Gegenmodell zum binären Technologiediskurs über die Erde hinaus. Im Interview spricht sie mit dem DOCK 20 über die Agency von Materie, Zeitlichkeit und Dauer sowie die Einflüsse von Poesie und Queerness auf ihre künstlerische Praxis.
DOCK 20: Erleben wir in deiner Arbeit „Athmospheric Drafts of Intimacy“ ein posthumanes Schöpfungsmoment?
Johanna Bruckner: Ich habe die Arbeit begonnen, als ich für eine Residency in Rom war. Ich hatte dort ein Atelier in einem Turm, das mich sehr an ein Raumschiff erinnert hat. Ich war gefühlt gar nicht so sehr mit der Erde verbunden, sondern mit dem Himmel. Ich arbeite gerne in der Nacht und konnte dadurch den Nachthimmel und die Sterne beobachten. Die Pandemie hatte gerade begonnen. Für mich war das etwas total Schlimmes, vor allem weil man in Italien gar nicht wusste, wie sich das entwickeln würde. Ich habe mich oft zurückgezogen, habe mich auf die Terrasse gelegt und oft lange in den Sternenhimmel geschaut. Das hatte etwas sehr Sinnliches. Ich habe versucht, der Verbindung zwischen meinem Körper, der Oberfläche, auf der ich gelegen bin, und dem Sternenhimmel nachzufühlen. Zur selben Zeit las ich Texte über Atmospheric Escape. Ich kam zu dem Phänomen als Folge meiner Arbeit an „Molecular Sex“ und wollte mit „Athmospheric Drafts of Intimacy“ noch über die andere Arbeit hinaus gehen. In „Molecular Sex“ war der Körper zentral, wie er von Algorithmen „penetriert“ wird und wie durch eine algorithmische Penetration Software-Entwicklungen unterstützt werden – in diesem Fall für Sexroboter-Software. Ich wollte für meine neue Arbeit Körper auflösen und somit weg vom moralischen Körper, der uns quasi seit Descartes vermittelt worden ist.
Ich bin bei meiner Recherche auf Gase gestoßen, die durch Mining auf der Erde austreten und sich außerhalb der Erdatmosphäre mit allen möglichen anderen Substanzen im Weltall als Körperstrukturen formen. Diese zerrissenen Monster – „spekulativen Körperlichkeiten“, wie ich sie nenne – interessieren mich und ich wollte ihnen Namen geben und auch gleichzeitig keine Namen geben. Ich habe versucht, diesen und andere Texte zur Space-Kolonisierung zu dekolonisieren. Es steckt viel Queerness verborgen in dieser wissenschaftlichen Sprache, es kamen Worte wie „drag“ vor, was ich dann in meiner Poetry teilweise verwendet habe. Umformuliert zwar, aber quasi in einem queeren Sinne okkupiert. Zusammen mit dem Sound und dem Bild wollte ich einen Sog erzeugen, der die Zuschauer:innen auf einer sehr affektiven Ebene anspricht. Eigentlich ist es fast untragbar, eine so lange Arbeit zu machen. Diese Überforderung ist aber Absicht.
D20: Du meinst, dass Form und Inhalt kongruent sind insofern, dass sich die Einzelheiten der Arbeit auflösen durch diese Überforderung und lediglich ein „atmosphärischer“ Eindruck zurückbleibt?
JB: Genau, es sind wahnsinnig viele Dimensionen, von Makro bis molekular. Technologie ist oft ein Hintergedanke meiner Arbeiten, auch in dieser.
D20: Im Video wird oft gewechselt zwischen Mikroebenen und unendlich langen Zeiträumen über Milliarden von Jahren, Welche Rolle spielt Skalierung und Zeitlichkeit in deiner Arbeit?
JB: Das ist eine gute Frage. Dauer ist etwas extrem Interessantes. Gerade auch, weil meine Arbeit mit ihren 30 Minuten formal überfordernd ist. Lange Zeitabstände bergen viel Potenzial für Veränderungen und Transformationen, für die es noch gar keine Sprachen gibt. Es ist ein interessantes Phänomen, wie unsere Wahrnehmung von Zeitlichkeit heute so extrem ad hoc passiert und man multiple Entscheidungen zur selben Zeit trifft. Ich verfolge, wie rasant technologische Entwicklungen voranschreiten, ohne dass wir eigentlich Sprachen dazu haben. Ohne, dass wir ein Denken dazu entwickeln können, wie unsere Körper geformt werden durch Technologie. Ich glaube, lange Zeiträume können auch Möglichkeiten bieten, mit einer Art „Refusal“ zu antworten, sich zurückzulehnen oder einfach auch Mal nicht teilzunehmen.
D20: Das ganze Video wird zusammengehalten durch den Text, der aus dem Off eingesprochen wird. Wem gehört die Stimme, die in der Arbeit spricht?
JB: Ich beschäftige mich gern und viel mit Poesie. Queere, trans- und black poetry von Menschen, die ich interessant finde und auch von Freund:innen. Ich bin viel im Austausch und lasse mich beeinflussen, schreibe meine eigenen Gedanken dazu, paraphrasiere oft. Es geht für mich oft gar nicht darum, Autor:innenschaften klar herauszustellen, es geht eher um das polymorphe – ich spreche da sehr viel mit Karen Barad. Ich füge den Sprachen etwas hinzu und die Sprachen wirken weiter, indem ich sie aktiviere. Für mich ist es wichtig, jenseits von Autor:innenschaft zu fungieren. Es ist nicht wichtig, ob meine Autor:innenschaft hinter der Poesie steckt oder eine andere. Das gilt auch für die anderen Teilaspekte der Videoarbeit. Für mich funktioniert „Atmospheric Drafts of Intimacy“ nur als Ganzes.
D20: Für Karen Barad geht es um Intra-Aktivität als Gegenpol zu Interaktivität. In diesem Denkmodell bekommt vormals passiv gedachte Materie eine aktive Agency zugesprochen.
JB: Aus Barads quantenphysischer Perspektive kennzeichnet sich Materie durch Selbstberührung. Jenseits festgelegter Aggregatzustände befindet sie sich in einem permanenten Fluss und einer Zustandsänderung. Dadurch definiert sich die Welt jeweils aus punktuellen Situationen heraus und durch unser performatives Einwirken kristallisiert sich ein neuer Zustand, kommt die Welt in Bewegung. Mit diesem Modell der Intra-Aktivität lässt sich Materie und Welt und ihre permanente Veränderung queer denken – jenseits von geschlechtlichen Binaritäten und quasi auch jenseits von jeglichen binären Regimen.
D20: Du beziehst dich immer wieder auf die Krise. Die Stimme, die wir aus dem Off hören, schildert einen Zustand, von dem wir nicht genau wissen, wann er ist. Ist es ein Sprechen über die Lösung einer Krise, oder zumindest über einen post-krisenhaften Zustand?
JB: Es ist für mich klar, dass wir uns in der gegenwärtigen Welt durch neoliberale Entwicklungen, durch Austerität und Prekarität in einer Krise befinden. Ich habe mich viel damit beschäftigt, auf welche Art und Weise Algorithmen unsere Körper penetrieren, konstruieren, in unsere Körper eintreten und Material liefern, um Software zu erzeugen, um Datensätze programmieren , um Technologien bauen zu können. Unser Leben und unsere Welt werden von gewissen Diskursen bestimmt, an denen wir als Menschen, als Bürgerinnen und Bürger wenig Teilhabe haben, weil unter anderem in Medien ein einseitiger Diskurs geführt oder nicht geführt wird.
Ich finde, Kunst ist sehr wichtig dafür, Entwicklungen aufzuzeigen und Mitsprache gewährleisten zu können, sei es auf einer assoziativen Ebene oder einer, die es uns ermöglicht, einfach nur eine Meinung zu bilden. Ich finde es wichtig, dass Menschen einen Zugang dazu bekommen können, was in der Welt passiert, und das schließt politische und soziale Transformationen ein, genauso wie politische Konflikte. Ich habe mich früher viel mit Arbeitsstrukturen und Prekarität beschäftigt, arbeite noch immer in mehreren Kollektiven dazu, und es ist mir wichtig, in meiner Arbeit Position zu beziehen. Es sind immer unterschiedliche gesellschaftliche Themen, die ich anspreche, je nachdem, was mich gerade umtreibt. Ich bin viel unterwegs, habe viele Residencies und oftmals ergibt sich aus einem Recherchekontext für eine Arbeit die Fragestellung für die nächste.