Oktober: Simon Nagy & Lia Sudermann

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"Invisible Hands", HD Video, 12:24 min, 2021 

Der filmische Essay „Invisible Hands“ von Simon Nagy und Lia Sudermann zeichnet ein einfühlsames, humorvolles Porträt von Sorgearbeit in der Familie. Mit ausschließlich von Frauen gefilmten Archivmaterialien aus den Sechziger-, Siebziger- und Achtzigerjahren, als mehrheitlich die Väter plötzlich hinter Handkameras unsichtbar wurden, arrangieren die beiden Künstler:innen die Wirklichkeit der gefilmten Mütter, Großeltern, Kinder und Verwandten zu einer zeitlosen Allegorie der idealisierten Familie selbst. Mit der Collage intimer Bilder von Sommerurlauben, entspannten Nachmittagen im Garten und liebevoll gestalteten Feiern illustrieren sie die Ambivalenz zwischen der glücklichen Familie als Sehnsuchtsort und zugleich Ort der unbezahlten, als bereitwilliger Aufopferung verstandenen Reproduktionsarbeit – geleistet durch Frauen.

„Invisible Hands“ fragt zudem nach der Bedeutung der Liebe und zwischenmenschlichen Beziehungen in den pandemischen Zeiten des Kapitalismus. Und sucht nach Möglichkeiten der Sichtbarmachung und Anerkennung der niemals enden wollenden Fürsorgearbeit abseits von Mühsal, Verwertbarkeit und Zwang. Mit dem DOCK 20 sprachen sie über Archive, Stereotype und die eigene Verbindung zur Familie.


DOCK 20: Die Kleinfamilie ist eine Schicksalsgemeinschaft, der nur schwer zu entkommen ist. Jede ist anders und eigentlich auch wieder nicht. Wie kam es zu eurer Zusammenarbeit und zu „Invisible Hands“? Was bedeutet für euch die Familie?

Simon Nagy: Die Frage, was Familie ist – die natürliche Grundeinheit der Gesellschaft? ein Arbeitsplatz? die Keimzelle des Staates? –, beschäftigt uns beide stark. Wir haben auch selbst keine definitive Antwort darauf. Mit “Invisible Hands“ haben wir stattdessen versucht, einige ihrer widersprüchlichen Dimensionen im Dialog mit Archivmaterial auszuleuchten.

Lia Sudermann: Bei dem Archivmaterial handelt es sich um 8mm-Filme aus den 60er, 70er und 80er Jahren, die häuslichen Alltag, Urlaube und Feiern zeigen – also das, was wir heute als Homevideos bezeichnen würden. Die Besonderheit an ihnen ist, dass das Material ausschließlich von Frauen aufgenommen wurde; eine Blicksituation, die in Homevideos aus dieser Zeit alles andere als selbstverständlich ist. Uns hat interessiert, was in dieser Situation mit der Sichtbarkeit sogenannter unsichtbarer, feminisierter Arbeit geschieht.

SN: Das Thema war und ist für uns ein sehr persönliches. Der Beginn unserer Kollaboration ist mit dem ersten Covid-Lockdown zusammengefallen, in dem wir uns beide in intensiven Pflegebeziehungen und entsprechender Isolation wiedergefunden haben: Lia durch die Arbeit als Persönliche Assistenz, ich daheim durch die Pflege meines schwerkranken Vaters. Wir haben uns gegenseitig Sprachnachrichten geschickt, unterlegt mit geschnittenem Filmmaterial aus den Amateurinnenvideos. Daraus ist das dialogische Voiceover entstanden, das jetzt im Film zu hören ist.

D20: Das Archivmaterial zeichnet ein sehr klischeehaftes Bild der klassischen Familie, die heute oft anders aussieht. Wieso habt ihr euch für historisches Material als Visualisierung eurer Gedanken und Reflexionen entschieden? War früher doch alles noch ein bisschen besser?

LS: Das Material haben wir im Rahmen eines Projekts zwischen dem Österreichischen Filmmuseum und der Akademie der bildenden Künste in Wien – wo wir beide studieren – zur Verfügung gestellt bekommen. Das heißt, die zwölf Stunden Archivmaterial waren zuerst da, noch bevor wir wussten, was für einen Film wir damit machen wollen. Wir haben die Arbeit mit dem Material dann gerade aufgrund seiner scheinbaren Klischeehaftigkeit und Unzeitgemäßheit schätzen gelernt. Zu Beginn haben wir noch nach Brüchen, nach Rissen, nach subversiven Momenten in den Filmen gesucht. Aber dann haben wir eingesehen, dass das kein wertschätzender und vor allem kein angemessener oder produktiver Umgang mit diesen Amateurinnenvideos ist, die schließlich nie dafür produziert wurden, öffentlich gezeigt zu werden. Natürlich versprühen sie größte Idylle, aber das tun doch so gut wie alle unsere privaten Bildproduktionen, seien sie fürs Familienalbum oder für Instagram.

SN: Viel aufregender als den unbekannten Familien vorzuwerfen, dass sie gar nicht so glücklich sind, wie sie tun, erschien es uns, ihre Videos als Gesprächspartnerinnen zu begreifen. Anstatt sie einfach als Bebilderung unserer bereits bestehenden Thesen heranzuziehen, haben wir versucht, mit ihnen und durch sie zu denken. Das Material war widerspenstig, hat sich gegen viele unserer Zugriffe und Deutungen und gesperrt von uns verlangt, unsere Herangehensweise immer neu zu reflektieren und zu adaptieren. Die Widersprüche, die in dem Thema reproduktiver Arbeit stecken, sind im Arbeiten mit dem Material richtiggehend greifbar geworden.

D20: In „Invisible Hands“ sprecht ihr euch dafür aus, dem „Unplanbaren“, dem „Unvorhersehbaren“ mehr Anerkennung zukommen zu lassen – was genau meint ihr damit? 

SN: Sich um andere zu sorgen und von anderen umsorgt zu werden – also sich und einander einzugestehen, in Beziehung zu sein, abhängig voneinander zu sein – bedeutet, viel Kontrolle abzugeben und damit auch gewisse Vorstellungen von Autonomie aufzulösen. Dieses Anerkennen von In-Beziehung-Sein bringt Unvorhersehbares mit sich, und wir versuchen, einem Begriff von Streik und Arbeitskampf zu folgen, der sich daran orientiert.

LS: Arbeitskampf in der Sorgearbeit funktioniert notwendigerweise ganz anders als in den verschiedenen Formen der Lohnarbeit. Reproduktive Arbeit ist einerseits so offensichtlich notwendig für das Aufrechterhalten unserer gegenwärtigen Produktionsweise und andererseits untrennbar eng verknüpft mit Leben und Lieben. Sie lässt sich von keiner dieser Ebenen trennen und sich deshalb nicht und nicht als klar greifbare, als klar ausverhandel- oder bestreikbare denken.

D20: Zum Abschluss: Ein Plädoyer für oder gegen die Reproduktionsarbeit? Habt ihr eine Utopie der „gerechten“ Familie?

SN: Solange Kapitalismus nicht abgeschafft ist, stellt sich die Frage nach einem Für oder Gegen Reproduktionsarbeit leider nicht. Kapitalistische Produktion basiert auf reproduktiver Arbeit, also (unbezahlter) Arbeit, die es dafür braucht, um entlohnte Arbeitskraft (wieder-)herzustellen. Innerhalb dieses Zustands lässt sich um verbesserte Arbeitsbedingungen für Pflegende kämpfen, zum Beispiel um Lohn für Hausarbeit, oder – aktuell sehr konkret – um die Aufhebung der Scheinselbstständigkeit von 24-Stunden-Betreuerinnen, wie sie die IG 24 fordert. 

LS: Natürlich interessiert es uns aber, über die Vorstellungsgrenzen, die Kapitalismus in unsere Köpfe und Lebensrealitäten hämmert, hinaus zu denken. Welche Arten von Sorgebeziehungen außerhalb der Kernfamilie gibt es noch? Oft fehlen uns auch gute Begriffe und Beschreibungen für diese anderen Beziehungen, in denen wir bereits leben. Das ist auch ein Grund, warum sie oft weniger sichtbar sind und weniger Wertschätzung erfahren.

SN: Die Utopie einer anderen Familie beschäftigt uns stark und wird die Grundlage unseres nächsten Filmprojekts sein. In ihm fragen wir, wieder in Dialog mit Archivmaterial, nach dem, was jenseits der Kleinfamilie liegt – und danach, wieso es uns so schwer fällt, uns das vorzustellen oder es gar zu begehren.

 

Credits:
Ein Film von Lia Sudermann & Simon Nagy
Musik: Elias Candolini Stabentheiner
Sound: Alex Clement



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