Dezember: Chantal Kaufmann

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"Oh, Boy", Digitalvideo, 08:37 min, Eng mit dt. UT, 2023

Aus dem sicheren Versteck, fast schüchtern, beobachtet der filmische Blick der Handkamera das Geschehen auf dem Spielplatz. Es wirkt, als würden die Mechanik der Apparatur, die ständig den Autofokus ändert, und die Person hinter der Kamera still miteinander ringen, welchem Objekt sie ihre Aufmerksamkeit schenken wollen. Durch Fenster und Zäune hindurch öffnet sich eine Szenerie des Alltäglichen: Kinder beim Fußballspielen, Rennen, Beobachten. Die sonore Stimme aus dem Off denkt laut nach über das Dispositiv der Familie: Was macht sie aus? Durch welche Rollen und Beziehungskonstellationen formt sie sich, welche Rituale setzt sie voraus? Die verschwommenen Gesichter der Gefilmten machen sie zu einer unbeschriebenen und somit perfekten Projektionsfläche für die unerfüllten Sehnsüchte der Zuschauer:innen.

DOCK 20: Chantal, aus welcher Situation heraus ist das Footage für diesen Film entstanden? War es eine spontane Reaktion auf die Umgebung?

Chantal Kaufmann: 2020 bat mich ein Freund, einen Ausstellungstext in Form eines Videos zu seiner Einzelausstellung beizutragen. Die Aufnahme entstand aus dem Fenster seines Studios, als ich ihn besuchte, um den Beitrag zu besprechen. Für das Video in seiner Ausstellung verwendete ich dann anderes Material, danach wartete diese Aufnahme lange auf ihre Verarbeitung.

D20: Der apparative Blick deiner Kamera klebt förmlich an den Kindern, scheint sie zu verfolgen. Dabei erscheint die Situation, die du festhältst, recht banal?

CK: Es ist erstmal ein Blick nach draußen, der erst durch das Geschehen aufmerksam, also aktiviert wird. Dadurch kommt er in Bewegung. Die Kinder laufen durchs Bild, der Bewegungsradius der Kamera ist gar nicht so groß. Er ist durch das Fenster gerahmt und durch die unterschiedlichen räumlichen Distanzen und Grenzen (Raum, Glas, Straße, Zaun, Hof) gesetzt. Es bleibt nur der optische Zoom als Handlungsspielraum, um eine Nähe zu generieren, dieser führt paradoxerweise aber zu einer Unschärfe. In einem nächsten Schritt interessiert mich, welche Beziehungen da überhaupt möglich sind: zwischen Filmender und Gefilmten, dem Blick und der Sprache, Text und Bild. Natürlich gehört da die Frage dazu, unter welchen Konditionen diese filmischen Elemente entstehen. In der verdichteten Form des Videos kann ich darüber nachdenken.

D20: Du arbeitest oft mit dem dokumentarischen Bild. Findest du es erzählerischer als die Fiktion?

CK: Nein, nicht unbedingt. Zu einer fiktiven Produktion beziehungsweise einer Produktion von Fiktion bin ich noch nicht gekommen. Das dokumentarische Bild hat sich eher aus meiner Arbeitsweise heraus entwickelt. Früher hatte ich ein Verlangen, mein Umfeld und Ereignisse, die um mich herum passieren, festzuhalten. Eher spät und unverhofft kam ich dann über die Fotografie zu der bildenden Kunst. Von der Fotografie kam ich zum Bewegtbild und zum Text. Ich hätte aber schon Lust, mal einen fiktiven Film zu drehen und habe es bereits mit verschiedenen Freundinnen angedacht. Es existieren auch bereits Ideen für ein Skript.

D20: Die Erzählerinnenstimme betet fast mantrisch jene Schlagwörter hinunter, die eine Familie als Familie beschreibt und legt genau darin deren Schwere und Ambivalenz offen. Schweigen wie ein Vater in seinen besten Jahren“, ist eine der Umschreibungen für stereotype Rollenbilder, die oft unhinterfragt reproduziert werden. Wessen Stimme hören wir?

CK: Das ist eine meiner sehr wenigen Arbeiten mit einem gesprochenen Text. In den meisten meiner Arbeiten erscheint der Text ausschließlich in Form von Untertitel. Dabei lässt die Art und Anordnung von Text und Bild einen eigenen Interpretationsspielraum – und somit auch die Frage nach der Position der sprechenden Stimme offen. Der Text beschreibt meist etwas anderes, als das Bild zeigt. Diese Diskrepanzen und Leerstellen sollen die Hierarchie in der Bedeutungsherstellung zwischen Autor:in und Rezipient:in aushebeln, das heißt die Stimme oder der Text erzählt zwar etwas, aber die Bedeutung, das, was man sich dazu denkt und welche Gedanken dabei evoziert werden – ob man sich damit identifiziert und wer wen anspricht – bleibt unbestimmt.

D20: Zu sehen sind fast nur Kinder. Ob aus ihnen mal das wird, was die Stimme beschreibt, ob sie Verräter:in, Liebling, Schätzchen“ werden, bleibt offen. Das zumindest suggeriert das ruhlos wandernde Bild, dass sich für keine:n Protagonist:in entscheiden kann. Welche Rolle spielt der durch die Kamera vertretene gesellschaftliche Blick deiner Meinung nach?

CK: Das ist eine sehr große Frage, die ich so nicht beantworten kann. Die Frage ist, wie der gesellschaftliche Blick, bzw. ein Außen ein Kind formt.

D20: Ja. Nicht in dem Sinne, dass die Kamera und der gesellschaftliche Blick von außen ein und dasselbe wären. Sondern mich hat in der Frage mehr interessiert, ob die Kamera auf diesen referiert.

CK: In diesem Fall sehe ich in der Kamera nicht einen „durch die Kamera vertretenen gesellschaftlichen Blick“. Wie in der ersten Antwort bereits erwähnt, wird der Blick durch die Kinder aktiviert, die Kamera gleitet suchend umher und entscheidet sich dann, nach seinem Auftritt, für den größten Teil des Videos für einen Protagonisten, der selbst einen beobachtenden Blick einnimmt und den Blick der Kamera weiterleitet.

Was die sehr große Frage der Fremdzuschreibungen und Einschreibungen durch ein Außen für die Subjektkonstitution betrifft: Ich denke, sehr verkürzt, dass die familiären Verhältnisse für ein Kind auf jeden Fall sehr prägend sind (Privilegien, Zugänge oder eben deren Nichtvorhandensein). Und dass die Familie wiederum stark unter dem Einfluss der Gesellschaft beziehungsweise einem Außen steht. Die Gesellschaft beeinflusst das Kind und sein späteres Erwachsenenleben somit direkt und indirekt: einerseits durch das persönliche Umfeld, andererseits durch Institutionen, Gesetzte, Normen usw. Die Entwicklung des eigenen Lebens bleibt dabei an vielen Stellen kontingent.In meiner Arbeit habe ich mich über längere Zeit mit Theorien subjektkonstitutiver Mechanismen von Sprache auseinandergesetzt. Da kommen viele Theorien von materieller und idealistischer Dialektik vor, entlang der Konfliktlinien zwischen gesellschaftliche Realität vs. Subjekt. Das waren superspannende, aber auch sehr detaillierte Lektüren, die solche Vorgänge explizit zu beschreiben versuchen.

D20: Ja, deine Arbeit zeugt von einer Suche. Die Kamera scheint einerseits von Neugierde getrieben, hält stellenweise anteilnahmsvoll inne, etwa, wenn ein Kind allein und scheinbar ausgestoßen auf einer Mauer sitzt. Zugleich verschwindet durch die vielen Zäune und Hindernisse niemals die Distanz, das Moment des Lauerns aus dem Bewusstsein der Betrachter:innen. Gibt es da auch das versteckte Verlangen, die Familie scheitern zu sehen?

CK: Hm, dazu habe ich nicht so genaue Vorstellungen. Meinst du die Familie als Modell? Die Kernfamilie? Ich denke, da muss jedes familiäre Gefüge für sich selbst rausfinden, wie es irgendwie klarkommt. Ich habe auf jeden Fall sehr großen Respekt für jede Person, die ein Kind großzieht und in dessen Leben begleitet.

 

Chantal Kaufmann, *1984: Nach ihrem Abschluss der Bildenden Kunst/Fotografie (BA) an der Zürcher Hochschule der Künste (2012-2015) studierte sie für ein Jahr Kunstgeschichte an der Universität Zürich, (2016-2017) von wo aus sie in den Master in Critical Studies (MA) an der Akademie der bildenden Künste Wien wechselte (2017-2022). Ihre medienübergreifenden Arbeiten umfassen Video, Text, Skulptur und Installation und zeichnen sich in der Reflexion und Sichtbarmachung der spezifischen Modalitäten des jeweiligen Mediums aus. Sie wurden in zahlreichen Ausstellungen im In- und Ausland gezeigt. Zudem betrieb sie 2014-2018 mit Marc Hunziker und Rafal Skoczek den Ausstellungsraum UP STATE (Zürich), in dessen Rahmen sie Ökonomien im Kunstmarkt befragten sowie 2019-2020 den Off-Space Shoefrog (Wien) mit Parastu Gharabaghi und Demian Kern.

 

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