Oktober: Christian Boltanski

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"Quelques Souvenirs de jeunesse", 1974, 14:43 min, Digitalisat, Format unbekannt, deutsche UT: Martin Pangerl, Vertrieb: LI-MA
 

Eine der frühen Arbeiten des französischen Künstler-Archäologen Christian Boltanski (1944-2021) zeigt die Aufnahme einer Performance, die er 1974 vor einem Publikum aufführte. Auf einer kleinen Bühne rekonstruiert er „Quelques Souvenirs de jeunesse“ (dt. Einige Andenken an die Jugend) und verkörpert verschiedene Rollen seiner engsten Familienmitglieder. Berühmt für seine lebenslange Auseinandersetzung mit der Bedeutung der individuellen und kollektiven Erinnerung und ihrer medialen Vermittlung, begann Boltanski in den frühen Jahren seiner damals noch wenig beachteten Laufbahn, sich intensiv mit der Familie auseinanderzusetzen. Mit Kuratorin Susanne Kleine (Bundeskunsthalle Bonn) sprachen wir über die Rolle der Familie als gesellschaftliche Institution und die Performance Boltanskis als Methode künstlerischer Archivierung.

 

DOCK 20: Gegenwärtig ist die Auseinandersetzung mit Zugehörigkeit und Identität innerhalb der künstlerischen Praxis sehr präsent. In den späten 1960er und 1970ern dagegen betraten Christian Boltanski und andere Künstler:innen noch weitestgehend Neuland auf dem Gebiet. Woher kam damals das Interesse an der künstlerischen Auseinandersetzung mit Fragen der Erinnerung und der eigenen Biografie?

Susanne Kleine: In der zeitgenössischen Kunstproduktion sind relevante Fragestellungen und individuelle formal-ästhetische Formulierungen methodische Vorgehensweisen. Viele Künstler:innen analysieren nicht nur die Gegenwart, sondern begeben sich auf eine historische oder individuell biografische Spurensuche, um sich reflektierter mit der gesellschaftlichen Gegenwart auseinandersetzen zu können.
In der westlichen Kunst der 1960er und 1970er Jahre war die menschliche, gesellschaftliche und politische Katastrophe des 2. Weltkrieges noch deutlich spürbar. Die Auseinandersetzung mit der jüngeren politischen Geschichte und deren Auswirkungen, ist eine der Möglichkeiten, sich vom “Ballast” zu befreien, sich künstlerisch verantwortlich zu zeigen und für die Allgemeinheit relevante Inhalte zuzulassen. Das Infragestellen der Objektivität von Geschichte, die fragile Konstruktion ‚einer‘ Wahrheit wird anhand von vielen unterschiedlichen Erinnerungen untersucht. Und die größte Authentizität erreicht man als Künstler:in, wenn die eigene Erinnerung oder die eigene Biografie –stellvertretend – verhandelt wird.

D20: Das Bewahren, Rekonstruieren und Dekonstruieren stellt zentrale Momente innerhalb Christian Boltanskis Arbeiten dar, wobei diese Elemente nicht nur inhaltlich, sondern auch formal Ausdruck finden. Er dachte die Musealisierung seiner Werke stets als inhärenten Bestandteil mit, wollte gar ein Museum seiner biografischen Spuren im Archäologischen Museum von Dijon einrichten. Können Sie etwas zum Archivieren als künstlerische Praxis erzählen?

SK: Das Archivieren als künstlerische Praxis ist bei Boltanski eine methodische Entscheidung und ein stilistisches Mittel, sein Anliegen und seine komplexen Themen auf das Eindrücklichste zu visualisieren und vermitteln. Dabei spielen, neben einem möglicherweise individuellen Ausgangspunkt, die kollektive Erinnerung als eine Ressource für gemeinsame Erzählungen und identitätsstiftende Prozesse eine große Rolle. Ausgehend von einer umfangreichen Analyse entwickelt Boltanski über die formale Darstellung eine neue intensive Narration. In einem Archiv wird nicht nur Vergangenheit, Erfahrungen, Erlebtes verhandelt, sondern auch Zukünftiges impliziert, ist es doch eine Quelle für Reflexionen und neue Sichtweisen. Für das Bewahren, bzw. Zusammenführen von Archivmaterial – das bei Boltanski sowohl reales, als auch fiktives Material sein, bzw. zu einer beispielhaften fiktiven Erzählung formuliert werden kann – findet er dann unterschiedliche und formal beeindruckende ästhetische Formulierungen. Und Performances werden als entmaterialisierte Geschehen durch Film und Fotografie festgehalten – sie bleiben als Zeugnisse/Dokumente des eigentlichen Geschehens im (kollektiven) Archiv.

D20: In seinen Arbeiten changierte Christian Boltanksi stets zwischen zwei Polen: Der individuellen Erfahrung und der kollektiven Erinnerung. Wie kann dieses Spannungsfeld über die eigene biografische Bedeutung hinaus gedeutet werden?

SK: Seine individuellen Erinnerungen und realen sowie fiktiven Spurensuchen bieten die Basis für die künstlerische Reflexion. Anhand ihrer kann er relevante und dringliche Themen verhandeln, die er als Mitglied einer sich verändernden Gesellschaft mit einer größeren Verantwortung für Vergangenheit und Gegenwart wahrnimmt. Reflexion und Verantwortung sind zentrale Punkte seiner Arbeit, die sich im Kern mit Erinnerung, Verlust, Schmerz, Geschichte und ihre teilweise Verfälschung sowie Verantwortung auseinandersetzt. Boltanskis Werke sind ein Angebot, sich zu identifizieren, sich anhand des Gesehenen, Wahrgenommenen mit der eigenen Geschichte, der kollektiven und gegenwärtigen auseinanderzusetzen. Er, das Subjekt, das eigene Erleben und vor allem die persönliche Verantwortung sind wesentlich für sein Werk, aber die kollektive Erinnerung und die Notwendigkeit dessen, um in der Gegenwart reflektierter zu agieren, sind Themen von Boltanskis eindrücklichen Werken.

D20: Bereits 1971 untersuchte Christian Boltanski in seiner Arbeit „1939–1964 Album de photos de la famille D.“ die Authentizität von Erinnerungen, als er ein Fotoalbum einer fremden Familie verwendete, um die Erinnerung an einen fiktiven Urlaub festzuhalten, den es nie gab. Statt individuellem Familienglück entlarvt der Künstler biografische Erlebnisse als generische Muster in der bürgerlichen Gesellschaft, gestützt durch die damals noch jungen Massenmedien. Was waren die Fragen der damaligen Künstler:innengeneration in Europa, die sie zu dieser intensiven Auseinandersetzung mit der Bedeutung des medialen Bildes veranlasste?

SK: Gerade im westlichen Europa standen die Künstler:innen der Nachkriegszeit nach dem Informel und mit u.a. dem Zero als Manifest vor einem Neuanfang, einer Auslotung, was Kunst in der Gegenwart inhaltlich leisten kann und wie sie sich formulieren sollte. Diese Suche und Offenheit führt auch zu neuen künstlerischen Praktiken und so bereichert neben dem klassischen Tafelbild, neuen Medien, innovativen skulpturalen Setzungen auch spätestens seit Mitte der 1960er-Jahre die Performance die experimentelle Kunstszene. Neben Christian Boltanski seien hier noch vor allem Marina Abramoviç mit ihrem radikalen Performance Ansatz immaterieller Kunst, Joseph Beuys mit seinem demokratischen Kunstverständnis, ebenso Franz Erhard Walther oder Valie Export und Charlotte Moorman genannt. Sie alle suchen einen direkteren Zugang zu den Rezipient:innen und Begriffe wie Teilhabe oder Partizipation sind schon impliziert. Die massenmediale Kraft des Bildes macht sich auch Katharina Sieverding ab den 1960er-Jahren zu Nutze – sie untersucht die suggestive Macht des Bildes als „Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit“ und findet Bildlösungen, die dem Verlust der Aura widersprechen, was Walter Benjamin 1935/36 in seinem gleichnamigen Aufsatz attestierte. Er betont zudem, dass die Fotografie durch Reproduzierbarkeit einem Wandel unterworfen sei und eine veränderte kollektive Wahrnehmung impliziere.

D20: In „Quelques Souvenirs de jeunesse“ arbeitet Christian Boltanski mit dem Medium der Performance bzw. der Performancedokumentation, während er ansonsten einen Fokus auf das fotografische Bild legt in seiner Praxis. Worin, glauben Sie, liegt der Ursprung der Entscheidung, sich diesem Medium zuzuwenden? In einem Interview 2006 sagte der Künstler mal, er habe deshalb so viel über seine Kindheit gearbeitet, weil er sie vergessen wollte. Ist die Performance hierfür der Zugang?

SK: Die traumatischen Erfahrungen des Holocausts, seine Kindheit und Jugenderlebnisse sowie die Erinnerung und das Hinterfragen von Geschichte(n) und Identitäten sind Boltanskis große Themen. Seine eigene Suche nach seiner vom Holocaust geprägten jüdisch-ukrainischen Familiengeschichte löste den Wunsch aus, Archive gegen das Vergessen zu schaffen. So nutzte er zum Beispiel Flohmarktfunde, um umfangreiche Nachlässe für fiktive Biografien zusammenzustellen. In vielen Werken versucht er der Erinnerung an andere Menschen – seien sie real oder fiktiv – eine materielle Form zu geben.
Mit der immateriellen Kunstform der Performance erreicht Boltanski hier eine größere Direktheit und Eindrücklichkeit – das eigene Erleben wird wieder und wieder ‚aufgeführt‘, wieder und wieder durchlebt. Dadurch verliert es seinen Schrecken und kann ‚im Spiel‘ verarbeitet werden. Und in der Unmittelbarkeit der Aussage öffnet Boltanski sein Angebot für die Zuschauenden deutlicher in der Ansprache und möglichen Teilhabe. Nicht in der Manifestation sondern in der Flüchtigkeit von scheinbar alltäglichen Situation liegt die intensive, immersive Kraft einer Vorführung. In diesem Bühnenstück in acht Akten erzählt der Künstler von prägenden Erlebnissen in seiner Kindheit – vielleicht um sie zu verarbeiten, sicher aber auch, um aufzuzeigen, dass seine Erlebnisse kollektive sind, denn wer kennt nicht die ein oder andere Geschichte.

D20: Die Arbeit ist gezeichnet von einer Komik, die immer wieder ins Tragische abdriftet. Die stark überzeichneten Bewegungen, das Spiel mit der Puppe, die lautmalerischen Geräusche … Welche Rolle spielt der Humor für Christian Boltanski?

SK: Humor oder Komik nimmt in den frühen Jahren Platz in Boltanskis Werk ein. Seine Verehrung für Karl Valentin erlaubt ihm hier in die Rolle des Clowns oder des Narren zu schlüpfen, der Kritik (an bestehenden Verhältnissen) üben und ungestraft die Wahrheit sagen kann, auch Parodien sind dessen Metier. Die meist gesonderte Stellung des (höfischen) Narren mit der fehlenden Bindung an gesellschaftliche Normen ermöglicht ihm einen besonders großen Handlungsfreiraum. Schon Charlie Chaplin nutzt als „Tramp“ die große Freiheit des Narren.
Und diese sprichwörtliche Narrenfreiheit macht sich Boltanski auch in dieser Tragikomödie zu Nutze: In einem Wechselbad an Emotionen erzählt Boltanski mit einfachen Requisiten in acht Akten von der eigenen Kindheit, einer Kindheit, die so gewesen sein könnte, in dieser Form aber eher als ‚Bild‘ zu lesen ist. Er ist Erzähler und Akteur zugleich und setzt sein Alter Ego, die selbst hergestellte ca. 110 cm große Marionette „Le Petit Christian” / „Der kleine Christian” ein, um den Rollenwechsel leisten zu können. Stellvertretend für den erwachsenen Christian erlebt also der „kleine Christian“ Szenen aus der Kindheit. Schonungslos parodiert er, stellt autoritäre Erziehungsmethoden vor, erzählt von Zärtlichkeit, Wut und einem Ausgeliefertsein – einzig die Szenen mit der Mutter scheinen versöhnlich. In der Einfachheit der Darstellung liegt die Wucht und Kraft der einzelnen Szenebilder und die kollektive Erinnerung wird aufgerufen.
Am Ende steht Boltanski mit der Marionette auf, nimmt den Hut ab, verbeugt sich und verabschiedet sich mit: „Das war‘s. Einen schönen Abend all meinen Freunden.“ – der Narr verlässt die Bühne.
 

Interview: Anne Zühlke

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