Juni: Leyla Yenirce

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"Hayfa", Digitalvideo, 10:00 min

 

Die Familie des kleinen Hamza feiert das traditionelle jesidische Ritual Biska Pora. In ihrem Videoporträt nimmt Leyla Yenirce die Position der stillen Beobachterin ein, streift mit der Kamera hinter den Kulissen des großen Familienfestes in Hayfas Haus umher und fängt die turbulente Perspektive der Frauen ein, die mit großer Hingabe und routiniert für die Gesellschaft vorbereiten, kochen und servieren.

 

Während sowohl der eigentliche Protagonist – der kleine Hamza – als auch die Zeremonie in den Hintergrund rücken, treten die Köchinnen, ihr diasporisches Zuhause in einer Einfamilienhaussiedlung in Norddeutschland und die damit verbundenen kleinen Probleme des Alltäglichen in den Vordergrund. Mit dem DOCK 20 spricht Leyla Yenirce über Rituale, die Familie und das Einfangen einer kollektiven Identität.

 

DOCK 20: Das Video ist in zwei formal sehr verschiedene Abschnitte geteilt, dazwischen befinden sich sogar der Abspann und die Credits. Im ersten Teil porträtierst du verschieden alte Frauen, lässt sie nebeneinander Platz nehmen, filmst in schwarz-weiß. Es gibt auch keinen Ton. Der zweite Abschnitt ist sehr dokumentarisch, fängt viele Eindrücke auf einmal ein und kontrastiert den ersten damit stark. Wieso hast du die Arbeit so aufgebaut?

Leyla Yenirce: Die beiden Aufnahmen sind unabhängig von einander entstanden. Erst in der Post-Produktion kam ich auf die Idee, sie zu verbinden, da die unterschiedlichen Inszenierungstechniken in Kombination eine Spannung erzeugen, die mich interessiert. Erst kamen die Aufnahmen auf 16mm und dann der dokumentarische Teil, von der einzelnen Figur wandert der Blick auf die Gruppe.

D20: In deinem Video bleibt den Zuschauer:innen verborgen, wer Hayfa eigentlich ist. Sie wird zu einem abstrakten, flüchtigen Geist. Gleichzeitig scheint sie jeder der gezeigten Frauen ein Stück weit innezuwohnen?

LY: Ich arbeite gerne mit der „Anwesenheit durch Abwesenheit", wie der Autor Mazlum Nergiz so schön sagt. Eine Figur, die durch ihre nicht-erscheinen präsent ist und dadurch endlose Gestalten annehmen kann.

D20: Mit was für einer Vorstellung von dem, was Familie ist, bist du aufgewachsen?

LY: Puh, da habe ich keine genaue. Vielleicht so etwas wie ein Netz, in dem man gefangen ist und das einen gleichzeitig auffängt. Schutz und Enge zugleich.

D20: Die Gespräche der Frauen miteinander wirken vertraut. Nur an einigen Stellen hast du das Kurdische mit deutschen Untertiteln versehen. Wieso?

LY: Da der Film in erster Linie in Deutschland geschaut wird, wollte ich ihre Gespräche für ein diasporisches und deutsches Publikum verständlich machen.

D20: Immer wieder überlagern sich in den, mit der Kamera eingefangenen Bildern, zwei vermeintlich nicht ganz kongruente Welten. Auf der einen Seite die rotbraunen Klinker, die typisch sind für die Hausfassaden in Norddeutschland und anderseits die Größe der Familienfeier, die die übliche Dimension deutscher Vorgartenterrassen sprengt. Ein Sinnbild postmigrantischer Lebensrealitäten?

LY: Auf jeden Fall. Dieser Widerspruch von norddeutscher Fassade und dem großen Familienfest… So eine große Feier erwartet man nicht unbedingt auf einer Terrasse. Gleichzeitig ist es berührend, wie kreativ Menschen werden, wenn sie ihre Traditionen weiterführen wollen, egal wo sie sind. Die Häuserfassaden sind aber auch wie ein Zaun, der Schutz bietet, damit sie dies tun können.

D20: Jesid:in wird ein Mensch durch Geburt, zu konvertieren ist nicht möglich. Darin liegt eventuell auch die Bedeutung der vielen kleinen Rituale, die die Übergänge zwischen verschiedenen Lebensphasen begleiten. Welches besondere Interesse geht von ihnen für dich als Künstlerin aus?

LY: Mich interessiert in erster Linie, was ich sehe. Die Frauen in den Innenräumen, das gemeinsame Schaffen, ihre Realitäten und Lebensweisen. Dabei ist es für mich gar nicht von so expliziter Bedeutung, welcher Glaubensgemeinschaft sie angehören, aber während ich als teilnehmende Beobachterin gucke, gibt es doch ganz schön viel, über das ich mich wundere.

D20: Mit dem Blick durch die Kamera – einem apparativen Auge – entsteht immer auch eine zwangsläufige Distanz zum Geschehen. Über den Bildausschnitt, die Kamerabewegungen, den Schnitt findet automatisch eine Reflexion über das Gesehene bzw. Gefilmte statt. Wo verortest du dich selbst in diesem Moment? Fängst du Augenblicke einer kollektiven Identität ein? Ist es eine Arbeit über jesidisches Leben, ein jesidischer Blick auf ein Leben in Deutschland oder würdest du dich gar nicht innerhalb dieses Feldes einordnen wollen?

LY: In erster Linie verstehe ich mich als Künstlerin in diesem Feld, die biografisch bedingt einen Bezug hat zu dem Geschehen und deswegen in einer bestimmten Art und Weise auf das Geschehen gucken kann, weil sie es gut kennt. Wenn ich jetzt einen Marathon filmen wurde, dann würde ich auch auf die Menschen blicken, aber höchstwahrscheinlich anders, weil ich sie nicht gut kenne. Ob ich Augenblicke einer kollektiven Identität einfange, mag sein. Es ist eben nur ein Moment, ein Ritual, ein Teil dieser Gesellschaft aus einer bestimmten Position oder individuellen Beobachtung, sie steht nie für das Ganze, das ohnehin immer rätselhaft bleibt.

In ihrer multi-medialen künstlerischen Praxis beschäftigt sich Leyla Yenirce mit der Darstellung von Widerstand sowie mit kulturellen, medialen und militärischen Dominanzstrukturen. Sie verhandelt in Ihren Arbeiten den schmalen Grat zwischen verherrlichender Ideologie und widerständiger Emanzipation und setzt in Beziehung, was oft als Gegensätze angenommen wird: Feminismus und Krieg, Popkultur und Genozid, Begehren, Sehnsucht und Ironie.

Geboren in Qubîn, Kurdistan, studierte Leyla Yenirce an der HFBK Hamburg bei Jutta Koether und Simon Denny. Ihre erste institutionelle Einzelausstellung SO MUCH ENERGY fand 2022 im Kunsthaus Hamburg statt. Sie wurde u.a. mit dem Ars Viva Preis 2023 und dem Bundespreis für Kunststudierende, Bonn (2021), ausgezeichnet.

 

Interview: Anne Zühlke

Credits
Mit: Hayfa Aljundi, Dunya Aljundi, Hadiya Alali
Kamera: Leyla Yenirce, Katya Izmestyeva
Schnitt und Dramaturgie: Leyla Yenirce, Theresa George
Farbkorrektur: Zacharias Zitouni

 

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