April: Keren Cytter

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"Der Spiegel" (2007), Digitalvideo (Loop), 4:55 min

 

(English below)


In filmischen Collagen, Loops und Kammerstücken spielt Keren Cytter oft mit den Ebenen des Films und deren Bedeutung. Entlang der Strukturachsen ihres Mediums verschwimmen Sprache, Form und Inhalt und die strikte Trennung zwischen Zuschauer und Filmfiguren löst sich auf. "Der Spiegel" aus dem Jahr 2007 ist eine One-Shot-Aufnahme aus der damaligen Berliner Wohnung der Künstlerin, die heute in New York lebt. Die Protagonistin – Anfang vierzig, verheiratet und Mutter, streift nackt und verunsichert durch das Zimmer, in dem sie auf ihren Geliebten wartet und sinniert über ihr Alter, ihren Körper und gesellschaftliche Körperbilder. Den Chor ihrer Gedanken bilden einige Freundinnen, die sich mit Cytters Protagonistin im selben Zimmer aufhalten, sie bestärken, diffamieren und ihrem Karussell springender und widersprüchlicher Gedanken Ausdruck verleihen.

 

DOCK20: Deine Protagonistin scheint einen starken Identitätskonflikt zu erleben. Als erwachsene Frau und Mutter erträumt sie sich nicht nur den Körper eines Teenagermädchens zurück, sie erlebt paradoxerweise auch ähnliche Unsicherheiten gegenüber Männern, die sie bereits als junges Mädchen erlebt hat. Was hat dich 2007 dazu motiviert, dich mit dem Älterwerden und insbesondere dem Älterwerden als Frau zu beschäftigen?
 

Keren Cytter: Es gibt keinen wirklichen Grund. Ich habe zuerst das Video gecastet und dann den Text geschrieben. Als mir klar wurde, dass die Protagonistin völlig nackt und älter als der Rest der Schauspieler:innen sein wird, beschloss ich, über Altersunterschiede und das Altern zu schreiben.

D20: In einem Interview von 2019 hast du gesagt, dass dich das Älterwerden seit deinem 40. Geburtstag weniger tangiert, obwohl du als Künstlerin noch immer das Gefühl erlebst, „zu wenig“ erlebt und produziert zu haben. Die Gedankenstimmen, die die Protagonistin in „Der Spiegel“ vernimmt, sind an vielen Stellen sehr brutal, die Urteile der Männer schonungslos. Wie hast du selbst diese Zeit erlebt?

KC: Ich erlebe es nicht so wie die Protagonistin. Ich glaube nicht, dass ich viel älter aussehe, und gleichzeitig habe ich kein Interesse daran, irgendjemandem zu gefallen oder zu irgendetwas zu passen. Es ist also ziemlich befreiend.

D20: Männer kommen in „Der Spiegel“ eher als generische, abstrakte Gestalten vor. Es gibt einen Mann, der die Sehnsucht und Liebe nicht erwidert und es gibt den Stereotyp des netten Kerls, der verschmäht wird. Das Motiv der aus der Ehe und Familie ausbrechen wollenden Frau scheint mit einem Stigma belegt zu sein, dass der Protagonistin durchaus von den Männern gespiegelt wird: Zu alt um begehrenswert zu sein, soll sie lieber Dankbarkeit zeigen, überhaupt noch jemandes Interesse zu wecken.

KC: Ja, ich konzentriere mich mehr auf die Form, als auf die Erzählung.

D20: „Wir sind kein Chor. Wir sind die Massen“ –  sagen die Gedankenstimmen der Protagonistin an einer Stelle des Videos und referieren damit sowohl auf die Sprache als Herrschaftsinstrument, als auch auf die Rolle der Gesellschaft für die Selbstwahrnehmung der Frau als Subjekt. Welchen Einfluss haben Gesellschaftsbilder auf dein künstlerisches Arbeiten?

KC: Ziemlich viel. Ich bin von der Gesellschaft, der Kultur und den Menschen frustriert. Ich versuche, den Menschen, die sich das Video ansehen, zu zeigen, wie falsch sie liegen. Aber ich weiß auch, dass diejenigen, die sich das Video ansehen, sich selbst als die Masse begreifen.

D20: Deine Videos sind voller Brüche und Sprünge über die unterschiedlichen Ebenen des Films. Die Protagonistin lebt sowohl in ihrer eigenen Welt als auch in dem Bewusstsein, dass es ein Publikum gibt, dass sie beobachtet und beurteilt. Worin liegt für dich der Wert der Vielschichtigkeit und des Aufbrechens der vierten Wand? Wie verstrickst du verschiedene Textebenen, Handlung und die technischen Bedingungen des Mediums Film miteinander?

KC: Ich weiß es nicht genau ... Ich versuche, das Video interessant zu halten und es zu mehr als einer Geschichte über Menschen zu machen. Ich betrachte es manchmal als Musikstück und manchmal als Objekt.

 

Keren Cytter schafft Filme, Performances, Zeichnungen und Fotografien zu den Themen soziale Entfremdung, sprachliche Repräsentation und der Funktion des Individuums durch experimentelle Formen des Geschichtenerzählens.

Ausgewählte Einzelausstellungen sind unter anderem: Ludwig Forum Aachen (2022), Kunstmuseum Winterthur (2020), Center for Contemporary Art, Tel Aviv und Museion Bolzano (beide 2019), Künstlerhaus - Halle für Kunst & Medien, Graz (2016), Museum of Contemporary Art Chicago (2015) und die Kunsthal Charlottenborg, Kopenhagen, State of Concept, Athen (beide 2014), Tate Modern Oil Tanks, London (2012), Cytter ist der Cytter wurde mit dem Guggenheim Fellowship in 2021 ausgezeichnet.

"Der Spiegel" (2007), Digital Video (Loop), 4:55min

In cinematic collages, loops and chamber pieces, Keren Cytter often plays with the levels of film and their meaning. Along the structural axes of her medium, language, form, and content blur, and the strict separation between viewer and film characters dissolves."Der Spiegel" from 2007 is a one-shot recording from the Berlin apartment of the artist at the time, who now lives in New York. The protagonist - in her early forties, married and a mother - wanders naked, upset and insecure through the room where she waits for her lover, pondering her age, her body and social body images. The noisy chorus of her thoughts is formed by a few female friends who are in the same room with Cytter's protagonist, encouraging her, defaming her, and giving expression to her carousel of jumping and contradictory thoughts.

 

DOCK20: Your protagonist seems to be experiencing a strong identity conflict. As an adult woman and mother, she not only dreams herself back into the body of a teenage girl, she also paradoxically experiences similar insecurities about the men she desires that you experienced as a young girl. What motivated you in 2007 to explore aging and, in particular, aging as a woman?

KC: No real reason. I first casted the video and then wrote the text. When I realized that the protagonist will be fully naked and older than the rest of the actors, I decided to write about age gap and aging.

D20: In a 2019 interview, you said that getting older has affected you less since turning 40, although as an artist you still experience the feeling of having experienced and produced "too little." The voices of thought that the protagonist hears in "Der Spiegel" are very brutal in many places, the judgments of men unsparing. How did you yourself experience this time?

KC: I don't experience it like the protagonist. I don’t think I look much older, and at the same time, I have no interest in pleasing anyone or fitting to anything. So it’s quite liberating.

D20: Men appear in "Der Spiegel" more as generic, abstract figures. There is a man who does not reciprocate desire and love, and there is the stereotype of the nice guy who is spurned. The motif of the woman who wants to break out of marriage and family seems to have a stigma attached to it that is certainly mirrored to the protagonist by the men: Too old to be desirable, she'd better show gratitude for even arousing anyone's interest.

KC: Yes, I'm more focused on the form than on the story telling.

D20: "We are not a choir. We are the masses" Say the protagonist's thought voices at one point in the video, referring both to language as an instrument of power and to the role of society in women's perception of themselves as subjects. What influence do images of society have on your artistic work?

KC: Quite a lot. I'm frustrated by society, culture and individuals. I’m trying to show the individuals who watches the video how wrong they are, but I know that know one’s watching the video see themselves as the masses.

D20: Your videos are full of breaks and jumps across the different levels of film. The protagonist lives both in her own world and in the awareness that there is an audience watching and judging her. What is the value of multi-layeredness and breaking the fourth wall for you? How do you intertwine different text levels, plot, and the technical conditions of the medium of film?

KC: I don't know exactly.. I'm trying to keep the video interesting and make it more than a tale about people. I'm sometimes thinking of it as a musical score and sometimes as an object.

Keren Cytter creates films, performances, drawings and photographs on topics of social alienation, language representation, and the function of individuals in predetermines cultural systems through experimental modes of storytelling and human perception.

Selected solo exhibitions include: Ludwig Forum Aachen (2022) Kunstmuseum Winterthur (2020), Center for Contemporary Art, Tel Aviv and  Museion Bolzano (both in 2019) Künstlerhaus - Halle für Kunst & Medien, Graz (2016) Museum of Contemporary Art Chicago (2015) and the Kunsthal Charlottenborg, Copenhagen State of Concept, Athens (both in 2014,) Tate Modern Oil Tanks, London (2012,) Cytter is the Cytter was awarded the Guggenheim Fellowship in 2021.

 

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