Im Gespräch: Murat Önen
Für seine Einzelausstellung „so gut ich kann“ haben sich der Maler Murat Önen und Kuratorin Anne Zühlke zum Interview getroffen und über seinen künstlerischen Werdegang, Alte Meister, Clubkultur und Formfragen gesprochen.
AZ: Hallo Murat, wie geht’s dir?
MÖ: Mir geht’s gut. Ich bin in meinem Studio in Düsseldorf.
AZ: Sollen wir über deinen künstlerischen Werdegang sprechen? Der hat früh begonnen. Du hast schon als Schulkind viel gezeichnet und warst auf einem Gymnasium für schöne Künste in Istanbul …
MÖ: Ja, das Avni Akyol Güzel Sanatlar Lisesi war eines der ersten staatlichen Gymnasien dieser Art. Ich war ungefähr 12, als meine Kunstlehrerin gesehen hat, dass ich gut zeichnen kann. Ich habe damals auch schon Bilder verkauft. Ich habe mit Buntstift Pokémons gezeichnet und sie ausgeschnitten als Sticker, damit die Leute sich das in die Bücher kleben konnten. Für zehn Cent, zwanzig Cent … Später hatte ich dann bei dieser Lehrerin Zeichenunterricht. Erst mit einer Gruppe von Mitschüler:innen, aber nach wenigen Wochen war nur noch ich übrig. Ich habe viele Stillleben und Portraits gezeichnet, viel reproduziert. In der Türkei ist das der Weg, wie man das Kunstschaffen lernt.
AZ: Hat dich das gestört?
MÖ: Ich habe das gar nicht hinterfragt. Wenn die Lehrerin gesagt hat, dass zwei Caravaggios (1) in zwei Tagen fertig sein müssen, saß ich in der Nacht im Internat, hab mir Kaffee gekocht, und war bis fünf Uhr morgens wach, damit diese Bilder fertig wurden. Die Lehrerinnen haben aber auch Filme mitgebracht, dadurch haben wir schon mit vierzehn Michael Haneke (2) gekannt. Wir sind zusammen ausgegangen, waren bei Eröffnungen und auf Demos. Wir waren hungrig nach intellektuellem Input. Es ging immer um mehr als nur um Kunst, sondern auch um die Frage: was für Menschen werden wir? Die Lehrerinnen haben uns nicht nur als Schüler:innen gesehen, sondern auch als zukünftige Kolleg:innen.
1 Michelangelo Merisi da Caravaggio (1571–1610) war einer der bedeutendsten Maler:innen des Barock. Auf ihn wird die Perfektion der Chiaroscuro – Hell-Dunkel-Malerei – zurückgeführt. Dramatische Beleuchtungen und ausgeprägte Plastizität zeichnen seine Bilder aus. Viele christliche Motive, aber auch mythologische Themen der Antike fanden dadurch eine lebensweltliche Form der Darstellung.
2 Michael Haneke (* 23. März 1942 in München) ist ein österreichischer Filmregisseur. Seine sozial- und geschichtskritischen Werke wurden international mit Preisn ausgezeichnet. Er drehte u.a. „Das weiße Band – Eine deutsche Kindergeschichte“ (2009), „Die Klavierspielerin (La Pianiste)“ (2001) und „Funny Games“ (1997)
AZ: Du bist dann zum Studieren zunächst in Istanbul geblieben und hast an der Mimar Sinan Universität der schönen Künste studiert …
MÖ: Ein tolles Gebäude und eine sehr, sehr klassische Ausbildung. Im ersten Jahr durften wir noch nicht malen, ich habe es trotzdem gemacht und mir Ärger mit dem Professor eingehandelt. Aber da ich schon vier Jahre Unterricht auf dem Gymnasium hatte, wollte ich mehr. Mir war damals schon klar, dass ich weggehen würde. Ich habe dieses erste Jahr daher eigentlich mit Teetrinken und Deutsch lernen verbracht. Habe ein bisschen gezeichnet und mich dann für Erasmus beworben …
AZ: Wieso nach Deutschland?
MÖ: Ich wollte vor allem einfach weg. Ich habe einige Verwandte in Deutschland, meine Eltern haben in den 1970er Jahren auch mal dort gelebt, sind dann aber wieder zurück in die Türkei gezogen. Ich fand unser Viertel nicht spannend, ich war mit der Gesamtsituation unzufrieden und hatte darüber gehört, dass die Hochschule in Düsseldorf gut sei. In meiner Schulzeit hatte ich außerdem vor allem europäische Kunst kennengelernt und wollte dem nachgehen. Ganz durchdacht war das aber alles nicht. Eher ein Gefühl, dem ich gefolgt bin und eines Tages entschieden habe: „Ich geh jetzt, Tschüß.“
AZ: Du bist dann an der Universität für Bildende Künste in Dresden in die Klasse von Ralf Kerbach gekommen, der selbst eine ziemlich spannende Persönlichkeit ist. Er kommt aus Dresden, ist 1982 ausgebürgert worden und nach Westberlin gezogen, galt als Störenfried. Er war dann in Berlin, Paris, länger in Brasilien unterwegs und ist als einer der Ersten nach der Wiedervereinigung 1992 an die Kunstuniversität nach Dresden berufen worden.
MÖ: Ja, er ist sehr jung Professor geworden!
AZ: Extrem jung. In einem Interview (3) spricht er über sein Verhältnis zur Abstraktion und der figurativen Malerei in den 1990er Jahren. Er sagt, dass ihn die abstrakte Malerei der Nachkriegsära ermüdet, dass sie in einer Sackgasse stecke. Sein Fokus lag daher auf der Figur und das scheint sich auf deine frühen Arbeiten übertragen zu haben.
MÖ: Auf jeden Fall. Ich bin durch Zufall in seine Klasse gekommen und es hat einfach gut gepasst. Ich muss allerdings gestehen, dass ich in der ersten Zeit nur selten im Atelier oder an der Universität war. Das hat auch zu Spannungen geführt.
3 FUCKING GOOD ART. In selfless service to our community, Dresden edition #13, Mai 2006, https://www.fuckinggoodart.nl/Archive/fga13, zuletzt abgerufen am 12.2.204
AZ: Wo warst du denn?
MÖ: Ich war grade 19 geworden, ich bin auf Partys in Berlin und Dresden gegangen. Die Akademie war einschüchternd, die Welt draußen einfach attraktiver als dieses stille, große Gebäude. In den ersten zwei Jahre habe ich nicht viel gearbeitet und Ralf Kerbach war ziemlich sauer und wollte mich aus der Klasse rausschmeißen. Das muss man an der Kunstakademie erstmal schaffen. In dem Moment hat es bei mir Klick gemacht und ich habe meine erste Arbeit begonnen. In den Gesprächen in der Klasse über Kunst ging es vorrangig um Fragen der Raumbildung, Formentwicklung und Figuration … aber ich war vielleicht noch zu jung, um das ganz zu durchblicken.
AZ: Interessant ist, welche Aspekte deines damaligen Lebens sich bis heute in deinen Arbeiten niederschlagen. Meine erste Begegnung mit deinen Werken war 2016 in einem Technoclub in Leipzig. Ich war dort Türsteherin, du hast die Plakate gestaltet. Sie waren auffällig. Figurative Malerei als Plakatkunst für Clubkultur …
MÖ: …sehr bunt, sehr glitchy! Diese Plakatmotive sind zu einer Zeit entstanden, zu der ich noch immer viel ausgegangen bin und selbst Musik aufgelegt, aber zugleich viel gemalt habe. Diese spezielle Situation in Ostdeutschland mit den großen leeren Industrieräumen und der Subkultur hat mich damals sehr interessiert und eingenommen. Ich wollte keine Stillleben mehr malen, das war klar. Also wurden meine Motive die Räume, in denen ich mich bewegt habe. Fotos, die ich dort geschossen habe und die Stimmung an diesen Orten. Diese Parties waren unglaublich aufwendig und liebevoll dekoriert und es gab sehr viele Experimente mit dem Licht und der Beleuchtung. Das wollte ich auf die Leinwand bringen.
AZ: Und Menschenmassen! Die Faszination für die Techno- und Clubkultur kommt ja auch durch die Erfahrung, sich in einer großen, homogenen Masse auflösen zu können. Sind darin die Piles angelegt, die du immer wieder malst und zeichnest?
MÖ: Die Piles sind erst ab 2021 entstanden, als ich schon in Düsseldorf gelebt habe. Es ist keine direkte Referenz mehr auf die Clubräume, aber dieses ganze Fleisch und Chaos kommt sicher auch daher.
AZ: Ein gutes Stichwort. Mit deinem Umzug nach Düsseldorf hast du ein weiteres Kapitel deiner künstlerischen Laufbahn aufgeschlagen, als du bei Yeşim Akdeniz (4) einen Meisterschüler gemacht hast. Anders als bei Ralf Kerbach stehen für sie Theoriekonzepte wie eine Kritik des Orientalismus, Postkolonialismus und Queer-Studies im Mittelpunkt ihrer künstlerischen Praxis. Sie bewegt sich entlang der Grenzen von Malerei, Installation, Skulptur und Interieur. Hast du bei ihr gefunden, wonach du gesucht hattest?
MÖ: Absolut. Ich wusste bis dahin nichts über Kontext, es ging immer nur um die bildnerischen Komponenten. Unsere gemeinsame Herkunft und der geringe Altersunterschied haben es uns erlaubt, sehr vertraut und auf Augenhöhe miteinander zu sprechen. Sie hat mir geholfen, meine Bildsprache weiterzuentwickeln, mich wegzubewegen von dieser Ästhetik der Gay-Magazine. Auf einmal habe ich mir Fragen gestellt nach der Bedeutung der Kleidung der Figuren, der Bedeutung des abgebildeten Raums, der Ausstellungssituation … Über die Covid-Pandemie und die damit verbundenen Einschränkungen ist dann etwas interessantes passiert. Ich habe mich von den realen Räumen und Ereignissen, die ich bis dahin gemalt hatte, gelöst und bin in meiner Malerei viel offener geworden.
4 Yeşim Akdeniz (*1978) ist eine türkische Installationskünstlerin und Malerin, die derzeit an der Kunstakademie Düsseldorf eine Professur für Malerei hält. In ihren Arbeiten befasst sie sich mit Orientalismus, Gender- und Queer-Studies sowie kultureller Aneignung. Sie hinterfragt zudem Konventionen und Hierarchien der westlichen Kunstgeschichte. Sie wird international ausgestellt.
AZ: Du meinst, dass zu einer Zeit der physischen Einschränkung eine Entgrenzung im Malerischen stattgefunden hat?
MÖ: Ja. Da kam mehreres zusammen: Ich hatte mein erstes eigenes Studio, meine finanzielle Situation hatte sich entspannt und ich konnte mich auf das Malen konzentrieren dadurch, dass es wenig drumherum gab. Ich habe mich viel mit Kunstgeschichte befasst. Wenig Ablenkung ist immer gut.
AZ: In deinem Studio in Düsseldorf gibt es eine große bunte Zettel- und Bildersammlung mit Darstellungen aus verschiedensten Epochen und künstlerischen Gattungen an der Wand über deinem Schreibtisch. Welche Motive oder Themen sind für dich besonders interessant?
MÖ: Das ist ganz unterschiedlich. Aber es waren vor allem die Gespräche mit Yeşim Akdeniz, die mir die richtigen Impulse gegeben haben. Ich habe mir Comics angesehen, Fotos und Malereien aus unterschiedlichen Epochen. Ich erprobe immer im Malen selbst, ob bestimmte Motive oder Ideen funktionieren oder ob sie mich nur ästhetisch ansprechen. Durch meine Ausbildung in Istanbul waren die alten Meister (5) für mich sehr prägend. Doch während meiner Ausbildungszeit dort habe ich immer nur die technischen Aspekte gelernt, zum Beispiel wie man eine Hand malt, aber nicht, wieso sie so dargestellt wurde. Mich interessiert beides – ich mag die Tiefenbeschäftigung sowohl mit der Form als auch dem Inhalt.
5 Als alte Meister werden vorwiegend Maler, selten Malerinnen zwischen dem 14. und dem 18. Jahrhundert bezeichnet. Die Bezeichnung stellt eine zeitliche Abgrenzung zur Neuzeit und der Moderne dar. Berühmte Sammlungen dieser Zeit befinden sich u.a. in Dresden in der Gemäldegalerie Alte Meister, der Alten Pinakothek in München und der Gemäldegalerie in der Akademie der bildenden Künste in Wien.
AZ: Vielleicht kannst du das kurz ausführen? In deiner Arbeit „Tired from the past” gibt es diese Rückansicht eines Schweins, dass sich unter dem Bett zu verkriechen versucht.
MÖ: „Die drei kleinen Schweinchen“ und der böse Wolf sind ein Motiv, dass ich lange in meinem Studio hatte und zu dem ich mich verbunden fühle: Die Schweine wirken auf mich sehr queer und sehr lebenslustig, wie sie pöbeln und singen und sehr feminin tanzen, während der behaarte böse Wolf ihren Antagonisten darstellt. Ich male keine Symbole, vielmehr sind die Motive Ausgangspunkte meiner Auseinandersetzung mit Formfragen und Kontexten – in diesem Fall einem homosexuellen. Die Bilder sind über einen langen Zeitraum sehr offen, werden immer wieder übermalt und umstrukturiert. Es lässt sich nicht vorher antizipieren, welche Rolle ein Motiv wie das Schwein schlussendlich einnehmen wird, jedenfalls ist es keine direkte Referenz auf seinen Ursprung.
AZ: Auf der einen Seite verunmöglichst du eine einfache, lineare Deutung durch Symbole und Metaphern, auf der anderen Seite vermittelst du deine inneren Prozesse durch kompositorische und formale Entscheidungen. Zum Beispiel durch die Gestaltung von Oberflächentexturen oder die Genauigkeit oder auch Ungenauigkeit einer Darstellung. In der Arbeit „Thèo is sleeping and I am thinking of abstraction” ist das sehr gut erkennbar.
MÖ: Dieses Bild hat eine interessante Entwicklung durchlaufen. Es stand lange bei mir im Studio. Ursprünglich war es ein Selbstporträt, davon ist nur noch der dritte Arm übriggeblieben und der Zebrateppich. Ansonsten habe ich mich in dieser Zeit viel mit Abstraktion beschäftigt und diese Auseinandersetzung ist sowohl in der Figur als Selbstbildnis als auch in der formalen Entscheidung, die Blumen abstrahiert darzustellen, erkennbar. Ich möchte mir in der nächsten Zeit einen Wiedererkennungswert erarbeiten, der sich nicht durch die immergleichen Motive oder einen zu ausdefinierten Stil bildet, sondern ein wiederkehrendes Gefühl, dass sich durch meine Arbeiten hindurch vermittelt. Ein Schritt in diese Richtung sind meine Papierarbeiten, weil sie viel schneller und intuitiver entstehen als die Malereien. Und ebenfalls sehr wichtig ist für mich, die Arbeiten immer wieder miteinander ins Verhältnis zu setzen. Als ich für meine Ausstellung im Neuen Aachener Kunstverein 2023 (6) das erste Mal mit dieser neuen Form der Hängung gearbeitet habe, ging es mir weniger darum, Malerei installativ zu inszenieren als vielmehr die Bilder miteinander in Beziehung zu bringen …
6 Murat Önen: „Doing the work“, Neuer Aachener Kunstverein, 26.3.–21.5.2023
AZ: … und eine konzeptuelle Klammer um deine eigene malerische Entwicklung zu legen? Es scheint mir schon sehr offensichtlich, dass hier einige Referenzen herangezogen wurden: Ich erkenne die Opulenz und Fülle der neuzeitlichen Salonhängung, wie man sie in der Gemäldegalerie Alte Meister in Dresden und anderen Museen der Residenzstadt findet. Ich sehe aber auch eine kritische Befragung kunsthistorischer Paradigmen und Hierarchien zwischen den Gattungen, wie sie in der Kunst von Yeşim Akdeniz dauerpräsent ist. Und ich muss ehrlicherweise auch noch ergänzen, dass sie mich an die Hängung in den Booths der Kunstmessen erinnert.
MÖ: Darüber habe ich noch nie nachgedacht, aber du hast recht. Für mich war dieses lose Zusammensetzen eine sehr probate Antwort auf die vielen Einflüsse, die auf mich einwirken.
AZ: Als würde sich in deinem Display das Moodboard über deinem Schreibtisch wiederholen?
MÖ: Ja, es hat gutgetan, Arbeiten nochmal in dieser Zusammenstellung zu sehen. Im Studio produziere ich eine nach der anderen. In dieser Art der Installation bekommen auch die Größen der Werke andere Bedeutungen. Größere Arbeiten eröffnen gestalterische Freiräume, aber die kleineren kann ich überall einstreuen.
AZ: Körperteile verschmelzen, Bildebenen fließen ineinander, der malerische Gestus wird offener. Wohin geht deine malerische Entwicklung und inwiefern ist sie auch mit deiner eigenen queeren Identität verknüpft? Ohne sie in der Deutung überstrapazieren zu wollen würde ich behaupten, dass man in deinen früheren Arbeiten eine starke Sehnsucht danach spürt, sich in einer Menge aufzulösen, als Teil eines kollektiven (Party-)Organismus zu fusionieren mit der Subkultur und all den Codes, die sie dir angeboten hat. In den jüngeren Arbeiten trittst du sehr viel individueller in Erscheinung. Als ein Maler, der sich selbst gewiss ist. Viele der Figuren sind Freund:innen und Bekannte.
MÖ: In den früheren Arbeiten war ich extrem mit anonymen Männerkörpern beschäftigt. Durch sie hindurch habe ich meine damalige emotionale Situation ausgedrückt, konnte mich aber auch an den alten Meistern und Darstellungskonventionen abarbeiten; sie hatten also mehrere Bedeutungen. Ich würde ins Private abdriften, würde ich an dieser Stelle ins Detail gehen. Aber natürlich hatte mein Begehren immer etwas mit meinem Partyverhalten, meiner Gefühlswelt und meiner Malerei zu tun.
AZ: Die Arbeit „???“ ist mir diesbezüglich aufgefallen. Sie wirkt auf mich wie ein Scharnier zwischen bei Phasen. Die Figuren wirken zum Teil sehr grafisch, sehr generisch, während der Hintergrund und seine Lichtstimmung auffallend ausdifferenziert sind.
MÖ: Mit diesem Bild habe ich lange gekämpft. Hatte wirklich lange keine Ahnung, was sich darin abspielt. Es gibt einen Druck von Carl Russ von 1810, der den Mythos von Ganymed darstellt (7). Es ist eine besondere Darstellung des Mythos, denn Zeus wird nicht nur als Adler dargestellt, der den Jüngling entführt, sondern wird simultan als dessen Liebhaber abgebildet. Eine antike Twink(8)-Daddy-Erzählung auf dem Olymp aus dem neunzehnten Jahrhundert, die mich fasziniert hat. Für mich war interessant, wie sich dieses Motiv durch die Kunstgeschichte zieht und wie es sich unter meiner Bearbeitung entwickelt. Aber es war ein Kopfschmerzbild.
7 „Der Kupferstich von Carl Ruß gibt einen äußerst sinnlichen Moment wieder. Die Szene spielt im Olymp, wo Ganymed bereits als Mundschenk dient. Das verraten die Kanne und der Becher in seinen Händen. Jupiter, der fast doppelt so groß wie Ganymed ist, hält dessen Kopf mit beiden Händen fest. Der Kuss, der vermutlich gleich folgen soll, kann freiwillig oder erzwungen sein – die Gesichtsausdrücke und Körpersprachen der beiden Hauptfiguren sind nicht eindeutig. Unbestreitbar ist jedoch, dass Jupiter viel größer als Ganymed ist. Die Machtverteilung ist klar, der Göttervater hält den jungen Sterblichen wie eine Puppe. Zeus versteckt die Liebkosungen vor neugierigen Blicken, indem er seinen Mantel aufbauscht. Die Privatsphäre kann daher nur von kurzer Dauer sein. In der oberen linken Ecke des Bilds lugen schon mehrere Gottheiten aus den Wolken hervor. Vielleicht erahnen sie, was sich hinter dem Mantel abspielt, jedoch sehen sie es nicht direkt. Nur der Adler, der Jupiter begleitet und seine Blitze in den Klauen hält, kann den intimen Moment beobachten. Fast könnte man meinen, das Tier sei schockiert. Der Künstler scheint die erotische Dimension der Geschichte zu betonen. Das Versteckspiel des Paares spiegelt möglicherweise die Tatsache wider, dass gleichgeschlechtliche Paare zur Entstehungszeit des Kupferstichs mit Scham und Ächtung leben mussten. Bei wiederholter „Sodomie“ – so lautete der strafrechtliche Begriff für gleichgeschlechtlichen Sexualverkehr – drohte im 19. Jahrhundert vielerorts das Gefängnis.“ Germanisches Nationalmuseum, GNM_Blog, Queen im Museum, https://www.gnm.de/museum-aktuell/queer-im-museum, zuletzt abgerufen am 13.2.2024.
8 Als Twink können sich junge oder jungenhaft erscheinende schwule, bisexuelle und queere Männer/Personen bzw. Männer, die Sex mit Männern haben und/oder von Männern angezogen sind bezeichnen, die häufig klein und dünn sind und keine oder wenige stark maskuline Merkmale zeigen.
AZ: Ich denke in dem Bild „???“ zeigt sich die Auseinandersetzung mit der Schwierigkeit, Männlichkeit abseits von kriegerischer Überlegenheit darzustellen, sondern als etwas Nuanciertes, Sinnliches?
MÖ: Ja, es gibt nie nur Fleisch, Muskeln und Berührung. Dahinter steht auch eine Form der Einfühlung und Sensibilität, die ihren Ausdruck sucht. Der Hintergrund dieser Arbeit wirkt deshalb so stark, weil ich ihn sehr oft bearbeitet habe. Er enthält viele Einflüsse der barocken Lichtmalerei von Caravaggio. Ich habe ihn mehrfach gemalt, wieder weggekratzt, übermalt, gewischt … dadurch entsteht diese starke Sogwirkung.
AZ: Und was hast du als nächstes vor?
MÖ: Ich verbringe viel Zeit im Studio. Momentan finde ich es spannend, auf Papier zu arbeiten. Neue Farbigkeit, neue Elemente, neue Räume. Ich entwickle mich weg von der Figur. Sie wird immer ein Thema bleiben, aber momentan frage ich mich, was darüber hinaus interessant sein kann. Momentan verbringe ich wenig Zeit mit meinen Arbeiten, da sie häufig ziemlich schnell nach der Fertigstellung das Studio verlassen, um ausgestellt zu werden. Das ist gut, aber erzeugt auch das Bedürfnis, die Zeit mit ihnen intensiv zu nutzen. Malerei verlangt viel einsame Zeit im Studio, ich fühle mich gegenüber meinen Arbeiten verantwortlich.
Ich setze mir selbst Herausforderungen und versuche immer wieder bewusst den Fokus meiner Arbeit zu verschieben. Ich bin in Düsseldorf angekommen und sehr gerne am Arbeiten im Atelier, gleichzeitig aber auch viel unterwegs. In der kommenden Zeit werde ich versuchen, ein Gleichgewicht zwischen diesen beiden Polen zu finden. Ausstellungen zu haben ist dafür extrem wertvoll. Denn dort sehe ich meine Arbeiten versammelt, kann Rückschlüsse ziehen über meine Arbeit und nehme daraus viel mit für meine zukünftigen Werke.