Oktober: Laura Nitsch
“Violett”, Digitalvideo, 29:30 min, 2024
Vagabundieren, Herumstreifen und Umherstreunen sind seit jeher assoziiert mit der Gesetzlosigkeit und dem Tendenziösen. In ihrem „cruise through the archive“ durch Wiener Gerichtsakten spürt Laura Nitsch der verschütteten Geschichte des queeren Wiens nach. Sie collagiert Schicht um Schicht historische Ereignisse zu einem Geflecht aus stadtpolitischen und autobiografischen Momenten zweier Liebenden: der ungarischen Haushaltshilfe Ludmilla Horvath und der Wienerin Karoline Wiese, die sich mit ihrer Beziehung im Wien des frühen zwanzigsten Jahrhunderts am Rande des Gesetzes bewegten. Ein filmisches Palimpsest in das Wien der „Brettldörfer“ und die soziale Peripherie.
DOCK 20: Mich würde zunächst interessieren, wie du auf die Gerichtsakten, auf denen deine Arbeit basiert, gestoßen bist? Gibt es in Wien einen Ort, der sich mit der Archivierung der queeren Geschichte befasst?
Laura Nitsch: Angefangen hat meine Recherche 2019, nachdem ich im Wien Museum die Ausstellung Rotes Wien gesehen habe. Diese umfassende Jubiläumsretrospektive erzählt das Rote Wien als „soziales, kulturelles und pädagogisches Reformprojekt“ .
Das Rote Wien interessierte mich schon länger, doch während ich mir die Ausstellung anschaute, habe ich mich gefragt, ob diese „umfassende Demokratisierung aller Lebensbereiche“ nicht eigentlich auch ein Ende der Kriminalisierung queerer Beziehungsformen hätte bedeuten können. Zugleich habe ich mich gefragt: imaginieren wir die Arbeiter:innen im Roten Wien eigentlich als heteronormativ?
Also habe ich begonnen nach Dokumenten, Bildern, Geschichten, Filmen, Gesetzen, die von den Lebensrealitäten queerer Arbeiter:innen berichten zu suchen. Zuerst habe ich das Qwien - Zentrum für queere Geschichte in Wien kontaktiert und dort mit Andreas Brunner gesprochen. Das war interessant, jedoch meinte er sehr schnell, „puh queeres Leben im Roten Wien? Dazu gibts nichts, dazu wurde geschwiegen“. Ich habe mich dann trotzdem im Qwien durch einige Akten und Dokumente gewurschtelt. Als nächstes war ich im Wifar [Wiener Filmarchiv der Arbeiterbewegung] und hab mir dort das Filmarchiv angeschaut. Am Ende war ich noch im VGA [Verein für Geschichte der Arbeiterbewegung]. Den Strafakt von Karoline Wieser und Ludmilla Horvath habe ich dann aber im Wiener Stadt- und Landesarchiv gefunden und war sofort berührt von ihrer Geschichte – ein dickes Paket aus Gerichtsprotokollen, beschlagnahmten Liebesbriefen, ärztlichen Gutachten, Zeugenaussagen – alles zusammengehalten von einem rosa Archiv Umschlag. Mit der Recherche bin ich historisch vor der Zeit des Roten Wiens angekommen. Das erste Strafverfahren gegen die beiden fand 1913 statt und der Strafakt dazu ist verloren. Im zweiten Strafverfahren von 1914/15 wird jedoch wiederholt darauf verwiesen.
D20: Du arbeitest auf eine produktive Art sehr eklektisch, kombinierst Archivmaterial und Footage mit Animationen und Live Action, klammerst Bilder mit einem Sound und generierst eine multiperspektivische Erzählung. Wie sind deine formalen Entscheidungen an den Inhalt deiner Arbeit rückgebunden?
LN: Die Form für Violett zu finden war ein langer Prozess, in dem ich unglaublich viel ausprobiert habe. Der Strafakt gegen Karoline Wieser und Ludmilla Horvath erzählt ihre Geschichte in gewaltvoller, bürokratischer Sprache. Aber der Akt enthält auch ihre beschlagnahmten Liebesbriefe und damit ein intimes, nicht für die Öffentlichkeit bestimmtes Schreiben. Die Liebesbriefe sind zum Teil auf Postkarten verfasst, die Frauen, umrankt von Blumen oder in romantischen Landschaften, zeigen. Ich habe diese Bilder immer als Sehnsuchtslandschaften von Karoline und Ludmilla verstanden, in denen sie sich eine bestehende Form der Repräsentation angeeignet haben, um ihrem lesbischen Begehren und Lieben Ausdruck zu geben. Im Umgang mit der Sprache der Strafakte habe ich mit vielen Übersetzungen gearbeitet, da die meisten Briefe in Kurrentschrift verfasst waren, die ich kaum lesen konnte.
Da mich die Recherche über die „wilden Wiener Siedlungen“ zur New Yorker Schriftstellerin Solita Solano und damit zur Etymologie des Begriffs „faggot“ gebracht hat, habe ich mich als Filmsprache für Englisch entschieden. Ich habe die Akten ins Englische übersetzt und durch die Verwendung einer zeitgenössischen, frei verfügbaren Schrift von ihrer Materialität als historischen Dokumenten entfremdet. In der Auseinandersetzung mit der Sprache des Strafakts und den darin eingebundenen Liebesbriefen habe ich gemerkt, dass ich diesem eine filmische Spekulation gegenüberstellen möchte, die sehr körperlich, sehr räumlich ist und sich sowohl der Sprache als auch der Eindeutigkeit entzieht.
Dass ich mit Veza Fernández und Lens Kühleitner arbeiten will, wusste ich sehr schnell. Ich hatte Veza Fernández’ Performance „Alalazo“ gesehen, und ihre Fähigkeit, nonverbal einen Tornado an gleichzeitigen Gefühlen heraufzubeschwören, hat mich wahnsinnig berührt. Ähnlich ging es mir bei der Musik von Lens Kühleitner – Lens tritt nicht nur als Performer:in auf, sondern hat mit mir auch am Soundtrack gearbeitet. Sound, Musik und die Arbeit mit dem Körper berühren mich nochmal anders. Sie eröffnen einen Raum, in dem ich auf eine viel intuitivere Art arbeiten kann als mit Sprache und Bildern.
Als Drehort habe ich mich für den Wiener Donaupark entschieden. Der Park liegt nah an Floridsdorf, dem ehemaligen Wohnort von Ludmilla und Karoline, und war in der Zeit, in der sie lebten, als „Brettldorf“ bekannt. Die Tatsache, dass der Donaupark 1964 mit der Internationalen Gartenschau als Mega-Event und Modernisierungsprojekt genau dort geplant wurde und die letzten Bewohner:innen des „Brettldorfs“ geräumt wurden, erzählt viel über Verdrängungsprozesse und Geschichtsschreibung.
Dass Karoline Wieser und Ludmilla Horvath 1913 von der Polizei aufgegriffen und verhört wurden, problematisierte die bis dahin normalisierte Beziehung der beiden. Den gesetzlichen Rahmen dafür lieferte das Vagabundengesetz von 1885, das Arbeitslosigkeit und Armut kriminalisierte und diesen Menschen eigentlich untersagte, sich im öffentlichen Raum zu bewegen. Diese Macht der Polizei, die Anwesenheit von (in Armut lebenden) Menschen im öffentlichen Raum als verdächtig zu bewerten, ist ja eine Ungerechtigkeit, die sich bis in die Gegenwart zieht. Ich finde die Beschäftigung mit beinahe verloren gegangenen, widerständigen Lebensweisen deshalb wichtig. Den wenigen Fragmenten eines prekären Lebens Raum zu geben, sie wertzuschätzen und festzuhalten, ist sehr bestärkend. Die Auseinandersetzung mit den archivierten Materialien ist für mich deshalb immer auch ein Versuch, mit der Gegenwart klarzukommen.
Um auf deine Frage nach der Rückgebundenheit meiner formalen Entscheidungen an den Inhalt zurückzukommen: Ich habe Orte und Geschichten gewählt, die von Unsichtbarmachung, von Lücken erzählen, aber auch Potenziale in sich tragen. Das zeigt sich durch das Fehlen von Bildern, viel weiße Fläche, die zu einem blendenden Licht werden. Aber auch, wie du schön beschreibst, einem gewissen eklektischen Anhäufen von Material, um über das Sprunghafte und Leerstellen sprechen zu können.
D20: Das Material Holz als Kollaborateur des Widerständigen zieht sich durch den Film: Als Baumaterial, als Gebüsch zum Verstecken, als Brennholz, als Erzählerin. Eine der ersten Protagonist:innen des Films ist ein niedliches, animiertes Figürlein aus Holz. Es erklärt uns mit träger Stimmlage die Etymologie des Begriffs „faggot“ (dt. Schwuchtel“) als Prolog zur nachfolgenden Erzählung. Kannst du kurz auf diese Animationen eingehen? Wer ist diese Figur?
LN: Einer meiner ersten Impulse war es, den Film nicht aus meiner Perspektive, aber auch nicht aus der Perspektive von Ludmilla Horvath oder Karoline Wieser zu erzählen. Es hat mich interessiert, so eine kleine allwissende Figur zu kreieren, die humorvoll gegen die gegen sie erbrachten Zuschreibungen in den Widerstand geht. Vielleicht ist sie so träge, weil sie die Geschichte schon 10000-mal erzählt hat.
D20: Du zitierst auch die amerikanische Journalistin Solita Solane, sie schrieb 1923 in der National Geographic: „Vienna is one oft he richest and gayest cities on the continent“. Was kannst du uns über das queere Wien der 1920er Jahre erzählen?
LN: Dazu empfehle ich das Buch „Frauen und Freundinnen“ von Hannah Hacker oder
„Heimliches Begehren - Die Geschichte der Sidonie C.“ von Ines Rieder und Diana Voigt.
D20: Ebenfalls in diesen Jahren wurde in Wien damit begonnen, gegen illegalisierte Siedlungen vorzugehen. Die sogenannten „Brettldörfer“ wurden geräumt und die Ära des sozialen Wohnungsbaus begann. Es wurde zwar Wohnraum geschafft, aber auch starke soziale Kontrolle ausgeübt. Unangepasste und unpassende Menschen wurden in die Wohnungslosigkeit gedrängt und kriminalisiert, wovon queere Menschen stark betroffen waren. Gibt es Zeugnisse ihrer Perspektiven aus jener Zeit?
LN: Ich fürchte diese Perspektiven sind verloren gegangen. Perspektiven von queeren und armen Menschen wurden ja entweder kriminalisiert oder abgewertet.
D20: Die Archivaufnahmen zeigen mitunter das Schwemmland neben der Donau, auf dem die Menschen Hütten aus Bauschutt und Müll der Eisenbahngesellschaften bauten „in synergy with the trash“, was ich eine sehr schöne Umschreibung finde. Denn sie kann auch als Selbstbezug verstanden werden. Diese Menschen lebten nicht nur mit dem, was als Ausschuss vom Fortschritt abfiel, sie nahmen analog dazu genau jene Position in der damaligen Stadtgesellschaft ein. In einer späteren Szene sehen wir einen Rave im Gasometer – einen sprichwörtlichen Tanz in den Ruinen des Kapitalismus. Ein kleiner utopischer Ausblick?
LN: Die Szene im Gasometer ist für mich dramaturgisch ein Durchatmen und eine Zeitreise – unmittelbar davor sind die Passagen aus dem Strafverfahren, die immer wieder von Fragmenten aus den Liebesbriefen unterbrochen werden und damit so etwas wie eine queere Melancholie des Lebens in der falschen Zeit mit sich tragen. Von den Raves im Gasometer hat mir der Choreograf und Performancekünstler Sebastiano Sing erzählt, ein Freund, der mich bei der Arbeit an „Violett“ unterstützt und mich auf unzähligen Stadtspaziergängen durch die Wiener Landschaft begleitet hat. Die Gasometer wurden 1896 gebaut und waren bis etwa 1975 als Gaswerk in Betrieb. Zwischen 1993 und 1998, sozusagen als Zwischennutzung, fanden dort die Gasometer-Raves statt, und somit wurde der Gasometer zu einem wichtigen Ort für die Wiener Subkultur und die queere Szene. Kurz danach, 2001/2002, zog im Gasometer D das Wiener Stadt- und Landesarchiv ein. Wenn ich oben im Archiv den Strafakt von Karoline und Ludmilla angeschaut habe, habe ich oft an diese Raves gedacht. Mir gefällt aber auch deine Perspektive, diese Raves als Blick in die Zukunft zu lesen.
Laura Nitsch studierte an der Hochschule für Bildende Künste Hamburg, am San Francisco Art Institute und an der Akademie der bildenden Künste Wien. Sie beschäftigt sich mit marginalisierten und widerständigen Narrativen, den Zusammenhängen von Begehren und Ökonomie, Arbeit und Freundschaft, Eigentum und Bildung, Klasse und Kollektivität. Sie interessiert sich für queere Produktionspraktiken, Archive der working class und das kollektive Träumen als Potenzial für eine antikapitalistische Zukunft.
Ihre Arbeiten wurden bei der Diagonale in Graz, in Wien im mumok kino, in der Exhibit Galerie, im Kunstraum Niederösterreich und im Blickle Kino im Belvedere 21 gezeigt, sowie im atelier automatique (während der Ruhrtriennale) in Bochum, in der nGbK in Berlin und im Internet. Sie war Lehrbeauftragte an der Akademie der bildenden Künste Wien und der Züricher Hochschule der Künste. 2020 erhielt sie den Theodor-Körner-Preis, 2023 wurde ihre Arbeit „Violett“ für die Kunstsammlung der Stadt Wien angekauft. 2024 ist sie Stipendiatin des Goldrausch Künstler:innenprojekts. Sie lebt in Berlin und Wien.
Konzept, Idee, Produktion, Schnitt: Laura Nitsch.
Performance: Lens Kühleitner, Veza Fernándes.
Titel & character animation: PPPANIK
Sounddesign und Musik: Lan Rex / Lens Kühleitner.
Soundmix: Jochen Jezussek
Kamera: Laura Nitsch & Ipek Hamzaoglu.
Licht: Jennifer Gelardo.
Kostüm: Nana Kogler.
Künstlerische Beratung: Sebastiano Sing, Hugo Le Brigand. Katrina Daschner.
Assistenz: Juliane Saupe.
Gefördert durch das Bundesministerium für Kunst, Kultur, öffentlichen Dienst und Sport der Republik Österreich/MA7 Stadt Wien, Theodor Körner Fonds